TRENDSPOT

Camp – der komischste aller Trends

VON BERIT WARTA

Nehmen wir mal an, wir schauen einen Stummfilm. Dann gäbe es viel zu beobachten. Übertriebene Gestikulation, Freudensprünge, weit aufgerissene Augen und Münder – dramatisch, künstlich gespielte Emotionen. Blicken wir auf Charlie Chaplins Meisterwerke zur Verdeutlichung. Hier kann man sagen, dass die Filmlegende die hyperbolisierte Schauspielkunst nicht nur zu Unterhaltszwecken wählte. Vielmehr ging es zu Zeiten des Stummfilms darum, sicherzustellen, dass die gewünschte Botschaft bei den Zuschauern ankommt. Und einen Effekt auslöst. Und genau so, könnte man auch das Phänomen Camp beschreiben. Pathetisch, ironisch, unnatürlich-komisch, aber vor allem ein ausdrucksstarkes Statement. 

Spätestens seit der Met Gala 2019 beschäftigt sich nicht mehr ausschließlich Mode oder Kultur mit Camp, sondern auch die allgemeine Gesellschaft. Wieder, muss man jedoch sagen. Denn auch wenn MOMA Kurator Andrew Bolton Camp als Motto der Met Gala wählte, beschrieb das diesjährige Thema keine Modeinnovation. Bereits 1964 hatte die Philosophin und Schriftstellerin Susan Sontag über Camp als Phänomen geschrieben. In ihrem Essay „Camp – Notes on Fashion“ beschreibt sie es unter anderem als „good because it’s awful“ und findet für einen Vergleich Beschreibungen wie Maskerade, Theatralik oder Parodie. Sontags 58 Notes lassen erahnen, dass Camp sich nur beschreiben, aber nicht genau definieren lässt. 

TRAVESTIE & CAMP

It is one way of seeing the world as an aesthetic phenomenon. Susan Sontag, Note 1

Recherchiert man nach einem Ursprung, so liest man zügig über Frankreichs Sonnenkönig – den absoluten Ludwig den XIV. In Versailles zelebrierten der König und sein Bruder, Monsieur Phillippe, Übertreibung und Extravaganza. Delikate Roben, kostbarer Schmuck und Ballettabende de luxe. Für viele stellt Ludwig der XIV. den Gründervater des Camps dar. Seine Modeaffinität und sein opulenter Lebensstil beschreiben jene Charaktereigenschaft die Camp am treffendsten wiederspiegelt – Übertreibung. Des Weiteren lässt sich nachlesen, dass vor allem Ludwigs Bruder die Gesellschaft schillernder, junger Männer bevorzugte, um sich auf Festlichkeiten zu vergnügen. 

While it’s not true that Camp taste is homosexual taste, there is no doubt a peculiar affinity and overlap. Note 51

Spult man die Vergangenheit bis ins zwanzigste Jahrhundert vor, so stößt man auf weitere Charaktere der Mode und Kreativwelt, die für Camp stehen; der originale Batman, Andy Warhol, Cher, Elton John… Mae Wests berühmtes Zitat „Zu viel des Guten kann wundervoll sein“ oder Oscar Wildes „Man sollte entweder ein Kunstwerk sein oder ein Kunstwerk tragen“, zeichnen ein immer klareres Bild ab, wenn es darum geht, zu verstehen was Camp eigentlich ausmacht. 

Dennoch, bis Ende der 50er Jahre war Camp ein Trend des Untergrundes und nicht als Begriff selbst, sondern durch Verben wie TUNTIG und SCHWUL geläufig. Wer nicht als abnormal, pervers oder in Deutschland als 175er (gemäß Paragraph 175, Verbot der Homosexualität) abgestempelt werden wollte, der hielt sich also lieber bedeckt. 

Hinter dem seidenen Vorhang des Versteckspiels feierten deshalb häufig die von der Gesellschaft ausgegrenzten Randgruppen und Subkulturen den Trend. DragQueens bedienten sich an jener Nostalgie und Übertreibung, die auch Ludwig der XIV. so liebte. Daher rührt auch die häufige Verbindung von Travestie und Camp. Doch Camp ist noch viel mehr und lässt sich nicht an nur einer oder zwei Gesellschaftsgruppen festmachen. 

DAS MIKROFON DES UNTERGRUNDES

It is the farthest extension in sensibility, of the metaphor of life as theatre. Note 10

Erst als Susan Sontag 1964 ihre „Notes on Camp“ publizierte, wurde das gesamte Ausmaß des Trends deutlich. Zuvor hatte Sontag es sich zur Aufgabe gemacht, über Dinge zu schreiben, die sich in der Gesellschaft beobachten ließen, bisher aber nicht beschrieben wurden. Und so dokumentiert sie Camp als „The essence of Camp is its love for of the unnatural: of artifice and exaggeration“. Sie illustrierte es als „much of Mozart“. Als Bewegung in der Queer Szene. Als  esoteric – something of a private code, a badge of identity even, among small urban cliques.“

Camp ist ein Verhalten. Ein Stil. Eine Einstellung. Ein Spiel mit der Ironie. Eine Botschaft. Ein Witz. Fun. Eine Pointe mit klarer Schussrichtung und Ziel. Camp ist das Sprachrohr, das Mikrofon des Untergrundes. Um die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was in unserer Gesellschaft falsch läuft. 

Camp is the consistently aesthetic experience of the world. It incarnates a victory of ’style‘ over ‚content‘, ‚aesthetics‘ over ‚morality‘, of irony over tragedy. Note 38

In den 1960ern ging es darum, durch Camp die Gesellschaft zum Umdenken zu bewegen. Sontags Essay revolutionierte besonders, weil er die heterosexuelle Vormacht, die damals in den Medien, der Politik, der Gesellschaft und Familie etabliert war, infrage stellte. Mit Hilfe von Camp versuchten die Ausgegrenzten eine Neuordnung der Gesellschaft zu provozieren. Ironie und Künstlichkeit sollten einen Befreiungsschlag herbeiführen. Das Spiel mit der Ästhetik fungierte als Druckmittel, um liberalisierte, sexuelle Orientierungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Für eine diverse und inklusive Gesellschaft. Denn nur so – da waren sich die Verfolger von Camp sicher – könne das volle Potenzial einer Gesellschaft erreicht werden. Weil Freiheit und gleiches Recht für Jedermann gelten würden.

Geschmückt in den schönsten und schrägsten Gewändern ging es weiter. Durch die öffentlichen Diskussionen um Camp hielt der Begriff auch Einzug in die Film- und Modewelt. Eines der bekanntesten Film-Beispiele lieferte Richard O’Brien’s „Rocky Horror Picture Show“(1975). Via Strapsen, aufwendigen Perücken, Science-Fiction Stil und imposanten Gesangseinlagen behandelte das Musical Themen wie Gender-Fluiditiy oder sexuelle Orientierung – unter äußerst komischen Aspekten.  

CAMP & CATWALKS

going against the grain of one’s sex. Note 9

Blickt man in die Modewelt, so lässt sich Christóbal Balenciaga als ein Vorreiter bezeichnen. Seine Designs – reich an Seidenstoffen, Strass, rosa Ranken aus Federn, Perlen und handgearbeiteten Gowns – interpretierten Glanz und Gloria des Camp Überschusses. Auch für die heterosexuelle, modeinteressierte Dame. 

Camp is a woman walking around in a dress made of three million feathers. Note 25

Ein weiterer Sprung in die Zukunft führt uns zu Dior. Im Jahr 2003 feierte der damalige Kreativdirektor, John Galliano, die Renaissance des Camp und präsentierte eine Spring Couture Kollektion, unter dem Motto „hard-core romantic“. Die Entwürfe – ein Fest der Farben und Fabrics. Die Designs – überspannten den Bogen. Roben, die alle Dimension der Vorstellungskraft um Lichtjahre hinter sich ließen. Jedes Outfit übertraf das vorherige, im Hinblick auf Material und Technik. Und natürlich in Sachen Extravaganz. Der Designer setzte auf zu viele Federn, zu viele Rüschen, zu viel Volumen und zu viele Schichten. Herrlich. Die Models fanden eine schwere Aufgabe daran, sich zu bewegen. Aber die Show bewegte die Massen. Nach dem großen Hype sorgte Galliano mit der darauffolgenden Ready-to-Wear Show dafür, dass Camp tragbar und damit zum Mainstream wurde.

Rund acht Jahre später fand Marc Jacobs erneut Inspirationen am Phänomen Camp. Für die Ready-to-Wear Spring 2011 Show von Louis Vuitton, bediente er sich an Sontags Notes und setzte den großen Modeapparat ordentlich in Bewegung. Jacobs erklärte, dass er schlichtweg Designs präsentieren wollte, die keine Natürlichkeit abzeichnen. Also setzte er auf Party. Auf Glitzer, Pailletten und Lurex. Lieblingsfarbe? Shiny! Aber der Designer ließ es sich auch nicht nehmen, auf Sontag’s negative Beschreibungen des Trends einzugehen. So sollten seine Looks auf die Unnatürlichkeit und Inszenierung der Stadt Paris hindeuten.

I am strongly drawn to Camp, and almost as strongly offended by it.  

Während Sontag nämlich davon spricht, wie Camp dafür genutzt wird, um auf Konflikte in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, so drückt sie zeitgleich auch ihren Ärger über Camp aus. Denn Camp-Looks verschwenden Ressourcen. Sind kostspielig. Und damit nur innerhalb eines bestimmten Milieus zugänglich. Damit generieren Modehäuser zwar Aufmerksamkeit, arbeiten aber nicht daran, die wahre Essenz – das inklusive Gedankengut und die Gleichberechtigung für alle – zu realisieren.

Im Jetzt angekommen beschäftigt uns nicht bloß die Met Gala. Unzählige Designer dirigieren ihre Kollektionen unter den Charaktereigenschaften, die Camp ausmachen. Egalität, Gleichstellung, Integration, Gender-Fluidity und natürlich Überfluss. Darunter Gucci, Erdem, Balenciaga oder Moschino. Mit der individuellen Signatur des Designhauses werden die Aspekte der Künstlichkeit, der Ironie und des Theaterspielens zu Eigen gemacht. Allessandro Michele zeichnet die Linien von Männer- und Frauenmode weich. Schickt Cyborgs mit über den Laufsteg. Jeremy Scott versprüht 1980er Gameshow Vibes. Lässt die Haare der Models mehr als nur über-toupieren. Styling und Make-Up von Charles Jeffrey Shows beamen den Betrachter sofort zurück in die Club-Kid Ära. Und Viktor und Rolf übertreiben nicht nur in Sachen Materialverbrauch, sondern auch in Sachen Statements. 

 
UND HEUTE?

It is the love of the exaggerated, the ‚off‘, of things-being-what-they-are-not. Note 8

Und warum finden wir das so spannend? Ganz einfach. Weil wir in einem Zeitalter angekommen sind, in dem wir besonders auf bildliche Reize reagieren. Die visuelle Sprache hat das Ruder übernommen. Ist stärker als die textliche. Dank Instagram und Snapchat fokussieren sich besonders die jungen Menschen auf „instagrammable“ Objekte. Denn diese lassen sich später posten. Je auffälliger, desto besser. Hauptsache der eigene Beitrag sticht aus dem Feed der Follower hervor, sodass Likes generiert werden. Könnte man sagen. 

Man könnte aber auch behaupten, dass besonders Generation Z und Millennials dafür sorgen, dass die Gesellschaft ein jedes Mitglied, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder sexueller Orientierung, akzeptiert. Zur Veranschaulichung: In den letzten Jahrzehnten hat sich besonders in der westlichen Welt viel für LGBTI People getan. Facebook bietet seinen Nutzern zum Beispiel 60 verschiedene Auswahlmöglichkeiten zur Identifikation ihres Geschlechts an. Dadurch möchte die Social Media Plattform Diskriminierung vermeiden und Diversität und Vielfalt zelebrieren. Und dies, so schien es in den 1960er Jahren zumindest, definiert eine der Quintessenzen des Camp.

Camp taste is a kind of love, love for human nature. Note 56

Die Jahrhunderte sowie die Akteure, die sich an Camp bedienen, haben es zu dem gemacht, was es heute ist. Ein großes Enigma. Das sich nur schwer definieren, aber beschreiben lässt. Es bleibt dabei. Camp ist übertrieben, unnatürlich, komisch. Man spricht gut über Camp. Und man spricht schlecht über Camp. Aber man spricht über Camp. Und in der Zeit, in der wir uns gerade befinden, ist reden nicht Silber. Sondern Gold. 

Discover more